Schulpolitik auf dem Prüfstand: Interview mit SEW-Präsidentin Monique Adam (Tageblatt)
21. Décembre 2006"Mehr in Ganztagsschulen inverstieren"
Alex Fohl
Das Syndikat für Erziehung und Wissenschaft hat sich in eine zwiespältige Rolle hineinmanövriert. Der ehemaligen Unterrichtsministerin Anne Brasseur, hat das SEW eine verfehlte Bildungsoffensive vorgeworfen. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Angesichts des vorgelegten Reformtempos von Nachfolgerin Mady Delvaux-Stehres tritt das SEW nun selbst auf die Bremse. Verkehrte Welt!
Tageblatt: Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres hat ein ungeheueres Reformtempo vorgelegt. Froh darüber sind Sie nicht. Das führt mitunter zu der paradoxen Situation, dass sich Ex-Ministerin Brasseur ausgerechnet auf die Kritik des SEW. beruft und einen Reformstopp fordert. Macht das Sinn?
Monique Adam: "Ehrlich gesagt nein, das macht keinen Sinn. Wir befinden uns in einer gefährlichen Situation. Wir wollen Reformen, die vor Ort in den Schulen als notwendig angesehen werden. Dabei werden eigentlich Reformen angestrebt, die von oben herab verordnet werden und mehr bürokratischen Aufwand, mehr Kontrollen bedeuten. Wir müssen mehr Statistiken liefern, wir müssen mehr kontrollieren und evaluieren. Wenn man das Schulsystem steuern will; kann man sicherlich nicht ganz darauf verzichten. Uns stört aber die Art und Weise. Eigentlich ist es nicht das, was wir verlangt haben. Wir benötigen Hilfestellung bei Problemen, die wir in den Schulen feststellen. Wir haben aber das Gefühl, dass dies nicht richtig erkannt. wird, dass wir kein Gehör finden.
Zunehmende Verunsicherung
Die geplanten Reformen sorgen für zusätzliche Starrheit, sodass wir den Unterricht noch weniger frei gestalten können. Genau das aber motiviert die Schüler. Ständige Tests und Bewertungen tragen nicht eben zur Motivation bei. Ja, wir wollen Reformen. Mit dem neuen Schulgesetz und der Einführung von Kompetenzsockeln soll alles anders werden. Doch niemand weiß genau, welche Änderungen das konkret mit sich bringt. In den Schulen herrscht zunehmende Verunsicherung. "
T: Sie werfen der Ministerin u.a. vor, Schüler möglichst schnell durch das Bildungssystem schleusen zu wollen. Dabei wird Mady Delvaux-Stehres nicht müde, zu fordern, alle Schüler. müssten höher qualifiziert werden. Wie erklären Sie diese unterschiedliche Einschätzung der bildungspolitischen Lage?
M.A.: "Für mich bedeutet dies, dass wir mehr Schüler mit Universitätsdiplom brauchen, wir brauchen mehr Schüler mit Abitur. Wir brauchen mehr Jugendliche mit einer hohen beruflichen Qualifikation.
Manchmal werde ich aber den Eindruck nicht los, dass wir mehr Schüler auf CITP oder CATP-Niveau wollen, Hauptsache sie haben überhaupt eine Ausbildung.
Ich denke, dass wir uns hier nicht richtig verstehen. Ich will damit nicht sagen, dass man mit einem CATP sein Leben nicht machen kann. Ich denke aber nicht, dass es so viele Berufe und Jobperspektiven in diesem Ausbildungsbereich gibt. Zu glauben, wir seien gut, wenn das Gros der Schüler auf CATP-Niveau ausgebildet seien, trifft für mich nicht zu. Ich hoffe, dass die Ministerin das genauso sieht."
T: OGB-L-Präsident Jean-Claude Reding hat u.a. mehr Mittel für die Vor- und Grundschule gefordert und argumentiert mit dem Bildungserfolg des PISA-Musterlands Finnland. Ist dieser Ansatz vor dem Hintergrund einer als prekär geltenden Haushaltslage überhaupt umsetz bar?
M.A.: "Ich denke nicht, dass das Budget so knapp ist. Ich bin der Meinung, dass es möglich ist, noch mehr in die Schule zu investieren. Wir müssen. mehr in Ganztagsschulen investieren. Ich denke, dieses Modell kann einiges bewirken. Ich denke auch, dass es dazu beiträgt, Folgekosten einzusparen. Wir müssen die Mittel gerade hier und insbesondere in. den ersten Schuljahren verstärkt einsetzen.
Gerade bei den Kleinkindern müssten die am besten ausgebildeten Kräfte zum Einsatz kommen. Hier ist sehr viel Feingefühl notwendig. Deshalb fordern wir auch den Einsatz von gut ausgebildeten Sozialpädagogen, die Lehrern zur Seite gestellt werden sollen. Die Früherkennung von Problemen ist sehr wichtig."
T: In der Vor- und. Primärschule stehen grundlegende Reformen bevor. Die Reform des Schulgesetzes von 1912 sieht u.a. die Einführung von Unterrichtszyklen und Kompetenzniveaus vor. Auch die Evaluation der Schüler soll umgekrempelt und die Schulpartnerschaft gestärkt werden., Was halten Sie von den geplanten Ansätzen?
M.A.: "Die Komptenzen haben wir immer gefordert, aber nicht in der Form, wie sie uns jetzt vorliegen.
Die Evaluation ist ein heikles Thema. So wie sie im -Gesetz angegangen wird, erscheint sie uns sehr bürokratisch, einerseits mit den standardisierten Prüfungen und andererseits mit den so genannten Schülerportfolios. Ich fürchte, dass die Evaluation im Nachhinein das Gros unserer Zeit beanspruchen wird. Die geltende Bewertung ist selbstverständlich auch reformbedürftig, doch das neue Evaluationsmodell könnte noch katastrophalere Auswirkungen haben.
Zyklen sind ein guter Ansatz, sofern die notwendige Zeit zur Verfügung steht, um sie vernünftig mit Stützkursen zu organisieren. Im Vergleich zum jetzigen Stand brauchen wir einfach mehr Mittel.
Die Schulpartnerschaft scheint mir sehr wichtig. Sie darf aber nicht zu weit gehen. Wir müssen die Beziehungen zu den Eltern pflegen. Eltern brauchen gewählte Vertretungen, damit sie mit den Schulkommissionen und auf der Ebene der einzelnen Schulen mitdiskutieren können.
Bedenken habe ich allerdings, wenn Eltern am Unterricht beteiligt werden sollen, um den Schulerfolg ihrer Kinder zu gewährleisten. Die Schule kann nicht einen Teil ihrer Arbeit auf die Eltern abwälzen. Die meisten Eltern haben weder Mittel noch Zeit, um dies zu tun. Wir müssen aufpassen, was wir Eltern zumuten. Hier geht es nicht zuletzt um Chancengleichheit.
Trotz Kritik denke ich aber, dass in an diesen Punkten eine Einigung möglich sein wird.
Gegen staatliche Lehrernominierung
Überhaupt nicht einverstanden sind wir dagegen mit einer Verstaatlichung der Lehrernominierung. Unterrichtsstunden sollen kontingentiert und den Kommunen zur Verfügung gestellt werden. Ich hege den Verdacht, dass damit - wie im Sekundarunterricht - ein Numerus c1ausus geschaffen werden soll, der neu zu besetzende Lehrerstellen festschreibt. Die Kommunen müssten sich dann der Decke nach strecken.
Dabei sind es die Kommunen, die näher an den Bedürfnissen der Menschen sind und bislang für die Schulorganisation verantwortlich zeichnen. Die Idee, die Planung ins Unterrichtsministerium zu verlagern, scheint mir sehr gefährlich. Sie muss aus dem Schulgesetz entfernt werden, zumal sie auch vor dem Hintergrund der Austeritätspolitik zu sehen ist."
T: Unzufrieden sind Sie auch mit der Vorlage über die Umsetzung von Kompetenzsockeln, die den Lehrern zur Begutachtung vorliegt. Wo. rauf bezieht sich Ihre Kritik?
M.A.: "Die Vorlage ist nicht ausgegoren. Wenn. es nur Kompetenzen wären, mit denen man im Unterricht etwas anfangen könnte, wäre ich damit einverstanden. Die darauf gepfropften Grundfertigkeiten und -kenntnisse bilden eine lange Liste, bei der ich das Gefühl habe, dass Schüler durch eine Mühle getrieben werden. Das Zusammenspiel von Kompetenzsockeln und standardisierten Prüfungen soll letztlich in die Evaluation der Schulen einfließen. Ich befürchte, dass wir damit in Teufelsküche kommen."
T: Welchen Rat würden Sie der- Ministerin in Bezug auf die geplanten Reformen mit auf den Weg geben?
M.A.: "Die Ministerin sollte nicht so viel auf die Experten: in. Brüssel und bei der OECD hören.. Sie sollte mehr auf Lehrer zugehen und sich vor Ort in den Schulen ein Bild machen."