“Formation morale et sociale”: Ihr diskursethischer Auftrag im XXI Jahrhundert oder: Offener Brief an Herrn F. BILTGEN

11. Novembre 2007

Sehr geehrter Herr Minister,

Nach den vielen Fernsehauftritten, Pressemeldungen, Interviews, Debatten, Stellungnahmen und Gegenstellungnahmen zum Thema “Werteunterricht in Luxemburg” und bevor sich die Parteipräsidenten am 12. November über dessen zukünftige Ausgestaltung unterhalten werden, erlaube ich mir, auf etwas aufmerksam zu machen, von dem bis jetzt seltsamerweise so gut wie niemals die Rede war:

Vom offiziellen Lehrplan / plan cadre / plan d’études des weltanschaulich - und nicht wert - neutralen Unterrichtsfaches “Formation morale et sociale” (regelmäßig fälschlich “morale laïque” oder “wertneutraler” Unterricht genannt).

Ja, es gibt ihn, diesen Rahmenlehrplan, an den die Lehrkräfte gebunden sind und nach dem in allen Sekundarschulen (außer Neie Lycée) offiziell unterrichtet wird.

Nachdem dieser Lehrplan “Praktische Philosophie” in Nordrhein-Westfalen eine auf vier Jahre und in über 300 Schulen angelegte Erprobungsphase erfolgreich bestanden hatte, wurde er 2000 in Luxemburg vorgestellt, eingeführt und an luxemburgische Verhältnisse angepasst. Seither bietet das Unterrichtsministerium (SCRIPT) regelmäßig Fortbildungstage mit zwei Experten des Lehrplans an.

Hätte sich das Kerncurriculum “Praktische Philosophie” in den sieben Jahren in Luxemburg nicht eindeutig bewährt, so wäre es wohl nicht zum schulpolitisch begrüßenswerten Beschluss gekommen, dessen Inhalte und Didaktik in Zukunft durch fachwissenschaftlich und fachdidaktisch geschulte Lehrkräfte allen luxemburgischen Sekundarschülerinnen und -schülern anzubieten.

Im September 2008 wird eine Ausweitung des Curriculums bis hinab in die Grundschule bzw. seine Anpassung an die “Education morale et sociale” vorliegen.

Den Lehrplan als pdf download finden Sie unter :
www.learn-line.nrw.de/angebote/praktphilo

Da immer wieder betont wird (z.B. F.Biltgen, LW, 26.10.07, S.2): “Dort (d.h. im Neie Lycée) kommen in einem gemeinsamen Werteunterricht alle Religionen, auch der Islam, sowie der Atheismus zu Wort”, muss endlich aus dem Lehrplan der “Formation morale et sociale” zitiert werden :


« Ziel des Unterrichts im Fach Praktische Philosophie ist es, den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu erschließen, die Wirklichkeit in ihren vielfältigen Dimensionen effizienter wahrzunehmen und zu beurteilen sowie Empathiefähigkeit, Wert- und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Dies soll ihnen eine sinnvolle Lebensführung und verantwortliches Handeln in einer demokratisch verfassten Gesellschaft ermöglichen. (…)



Der Unterricht im Fach Praktische Philosophie hat daher die Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern wichtige weltanschauliche und religiöse Entwicklungen sowie ideengeschichtliche Zusammenhänge nahe zu bringen. Dabei haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, die religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen, die unsere eigene und fremde Kulturen geprägt haben, aus ihren Ursprüngen und Traditionen heraus zu verstehen. Sie sollen sich mit den darin erkennbaren Wertvorstellungen im Sinne interkultureller Toleranz auseinandersetzen und dazu Stellung nehmen. (…)



Pädagogische Prinzipien: Orientierung an den Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler; Orientierung an Vernunft und Empathie. (…)



Rolle der Lehrerinnen und Lehrer: Sie lehren nach dem Überwältigungsverbot. Sie kennen die zentralen Orientierungs- und Wertsysteme und gehen mit ihren eigenen Standpunkten und Überzeugungen sensibel und behutsam um. Sie werden bedenken müssen, wie durch den Unterricht eigenständiges Denken und eine lebendige, demokratische Streit- und Verständigungskultur entwickelt werden können. Es gibt Anknüpfungspunkte zur fächerübergreifenden Kooperation.



Die Inhalte des Unterrichts werden unter drei Aspekten behandelt (der personalen, der gesellschaftlichen und der ideengeschichtlichen Perspektive) und zu Fragenkreisen gebündelt:



Die Frage nach dem Selbst, die Frage nach dem Anderen, die Frage nach dem guten Handeln, die Frage nach Recht, Staat und Wirtschaft, die Frage nach Natur und Technik, die Frage nach Wahrheit, Wirklichkeit und Medien, die Frage nach Ursprung, Zukunft und Sinn.



Unterrichtsmethodische Prinzipien sind: Ganzheitlichkeit, Individuelle Lernwege, Reflexion statt Kanon, Sachwissen, methodische Kompetenz und dialogische Verständigung.




Arbeitsformen: Das philosophische Gespräch, der philosophierende Umgang mit Texten, die Produktion eigener Texte, Dilemmageschichten, Simulation und Rollenspiel, Konfliktschlichtung, Kreatives Gestalten, Umgang mit audiovisuellen Medien, Projektlernen, Realbegegnungen. “




Festgeschrieben sind auch Formen der Leistungsbewertung und Leistungsförderung.

Eine sachliche und faire Diskussion über die in Luxemburg vorliegenden Modelle des Werteunterrichts kann nur dann fruchtbar sein, wenn alle Gesprächsteilnehmer sich “das Ding an sich”, d.h. den Lehrplan der “Formation morale et sociale” erstmal angeschaut haben.

Im europäischen Raum gewinnt das Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen als “éducation à la citoyenneté, aux droits de l’homme, au dialogue interculturel et interconfessionnel » wachsendes Ansehen. Der Einsatz einer Expertin, Prof. Dr. Kerstin MICHALIK, die an der Universität Luxemburg unterrichtet, belegt dies auch für Luxemburg.

Die Commission nationale pour la Formation morale et sociale distanziert sich heute vom endlosen und spannungsvollen Dialog mit etablierten konfessionellen oder alternativen, nichtkonfessionellen Modellen der Werteerziehung.

Es geht ihr einzig und allein um die Vermittlung von personalen, sozialen, fachlichen und methodischen Kompetenzen die sich in den Dimensionen Wahrnehmung und Beobachtung, Gefühl, Denken, Erfahrung, Kommunikation und Interaktion, Argumentieren und Urteilen, Planen und Handeln ausdifferenzieren.

Das scheint uns der diskursethische Auftrag im XXI Jahrhundert zu sein.

Es dürfte den Gesetzgeber interessieren, dass in Deutschland (2006) ein juristisches Team (*) zur Verfassungsmäßigkeit eines Ethik-Pflichtfaches und einer religionskundlichen Grundbildung für alle Schülerinnen und Schüler Stellung genommen hat.


Jedenfalls ist inzwischen die Möglichkeit gegeben, auch in Luxemburg die Diskussion über die Werteerziehung, im Sinne des Europarates, sachlich, überparteilich und vor allem im Interesse der zukünftigen Generationen zu führen.

Hochachtungsvoll,

Rita JEANTY
Patricia PETTINGER
Professeures de Philosophie et de Formation morale et sociale




(*) Dr. Gerhard CZERMAK, Richter am Verwaltungsgericht a.D., Dr. Peter von FELDMANN, Vorsitzender Richter am Oberverwaltungsgericht a.D., Dr. Gabriele KUHN-ZUBER, Persönliche Referentin des Präsidenten des Sozialverbandes Deutschlands, e.V.