Der Kinder, nicht der Karriere wegen (Luxemburger Wort)

20. Août 2005

Leserbrief von Roger Linster

In einem Leserbrief zum Thema « Ungenügende Lehrerausbildung in Luxemburg?“ (30.7.05) bringt Herr Carlo Grethen die Diskussion über die Dauer der Lehrerausbildung auf einen wesentlichen Punkt, wenn er schreibt: „Als Lehrer, der tagtäglich mit diesen Problemen (Integration von Behinderten, Kindern mit extremen Lerndefiziten, ADS und Legasthenie, verhaltensgestörten und aggressiven Schülern … u.v.m.) zu tun hat, wünsche ich mir seit längerem eine Ausbildung, die auf diese vielfältigeren und komplexeren Fragen vorbereitet.“ Einige Sätze weiter spricht Herr Grethen zu Recht von einer „längere(n) differenzierten und spezialisierten Ausbildung der Grundschullehrer.“ Meiner Meinung nach soll diese Auffassung voll und ganz i den –Studien zum Tragen kommen, die auf den Lehrerberuf vorbereiten.

Immer mehr Eltern, Pädagogen und Entscheidungsträger haben erkannt, dass die Schule, aus vielen Gründen, besonders ethischer und humaner Natur, ihre Probleme im 21. Jahrhundert nicht mehr dadurch lösen darf, dass sie die die Problemkinder ausgliedert und an Sonderschulen oder gar an spezialisierte inländische und ausländische Institute und Institutionen überweist.

Jedes Kind hat primär das Recht, eingebunden in der lokalen Schulgemeinschaft, mit Gleichaltrigen seiner Ortschaft oder seines Stadtviertels, die ihm eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zum Entfalten zu bringen. Voraussichtlich wird es in nächster Zukunft immer normaler und selbstverständlicher werden, - und bald schon zum Regelfall, - dass die Spezialisten zu dem Kind mit spezifischen Bedürfnissen in dessen Klasse der lokalen Schule kommen, anstatt dass diese Schüler ihre vertraute Umgebung (oft für lange Jahre) verlassen müssen, um in den Nutzen der für sie notwendigen speziellen Ressourcen zu gelangen.

Die Hochschulstudien der Lehrer werden also verstärkt auf eine Schule mit einer immer weniger homogenen Schülerpopulation und mit immer zahlreicheren und mannigfaltigeren Problemen vorbereiten müssen. Ziel ist, dass trotz dieser Heterogenität jeder Lehrer sich im Stande weiß und deshalb ohne Vorbehalt gewillt sein kann, jedes ihm anvertraute Kind in die Welt des Lernens, Wissens und Könnens einzuführen: Auch ein Kind mit spezifischen Problemen und besonderen Bedürfnissen! Er wird dies im Rahmen der erwähnten spezialisierten Hilfestellungen zu erreichen versuchen, in einem den Möglichkeiten seines Schülers angepassten Rhythmus, mit individueller Methodik und gemäß einem multidisziplinär aufgestellten Plan. Interdisziplinäre und oft fächer- und klassenübergreifende Teamarbeit, in welche die Eltern weitgehend einbezogen werden, wird dafür eine der Rahmenbedingungen schaffen. Der Lehrer wird die tragende und pro-aktive Säule dieser Zusammenarbeit sein. Auch wird er in vielen Fällen zwischen den spezialisierten Pädagogen und Therapeuten einerseits und andererseits den Eltern eine unersetzbare Kommunikations- und Vermittlerrolle zu übernehmen haben.

Eine so geartete Zusammenarbeit kann sich nur ohne hierarchische Gliederung und bei einem vergleichbaren Grundkenntnis- und Verständigungsstand entwickeln. Um einen modischen Ausdruck zu gebrauchen: Lehrer, Therapeuten und andere Spezialisten müssen auf gleicher Augenhöhe diskutieren können. Auch dies muss eine Zielsetzung der kommenden Lehrerausbildung sein.

Die Neuordnung der Lehrerstudien soll dem Lehrsatz Rechnung tragen, dass jedes Mehr an Komplexität am Arbeitsplatz ein Mehr an Kompetenz verlangt und also ein entsprechendes Mehr an Ausbildung. Letzteres kann, wenn man davon ausgeht, dass im jetzigen Curriculum kein Spielraum für zusätzlichen Stoff mehr ist, nur auf Grund einer Verlängerung der Studienzeit gewährleistet werden.

Neu ist die Erkenntnis nicht, dass die immer vielschichtiger werden Komplexität der Luxemburger Schule nur auf Grund zusätzlicher Kompetenzen der Lehrer zu meistern ist. Der erste systematische Ansatz, die Vermittlung solcher Spezialkenntnisse zu gewährleisten, findet sich im Gesetz vom 6. Oktober 1983 über die Reform der Ausbildung der Primärschullehrer und die Schaffung des ISERP. Die Autoren dieses Gesetzes hatten sich damals, um die Ausdehnung der Ausbildungszeit von vier auf sechs Semester zu begründen, u.a. auch auf die Notwendigkeit berufen, bei allen angehenden Lehrern verstärkte Kompetenzen im Bereich z.B. der Sonderpädagogik zu schaffen. Leider wurde daraus ein Etikettenschwindel, vor dem der Staatsrat vergebens gewarnt hatte. Denn die Sonderpädagogik blieb während der Studien bloß ein Optionsfach und in der Praxis weitgehend der freiwilligen Weiter- und Fortbildung überlassen. Ich unterstütze deshalb die Meinung, welche Kollege Grethen dazu durchblicken lässt: Die Vermittlung der hier angesprochenen Kompetenzen muss unbedingt und in substantieller Weise in den Pflichtcurriculum der Grundausbildung des Lehrers angesiedelt und verankert werden, als Schwerpunkt der sich anbahnenden programmatischen und sachlichen Reform der Lehrerausbildung.

Der Kinder, nicht der Karriere wegen.




Neben der Tatsache, dass fast ausschließlich Lehrerinnen in Luxemburg ausgebildet werden und neue Lehrer absolute Mangelware sind, sieht die Realität im Luxemburger Schulsystem leider heute ganz anders aus:

Die Zahl der Lehrbeauftragten wächst ständig, so dass viele Schüler von nicht ausgebildeten Lehrpersonal betreut werden. Die jetzige Ausbildungspolitik lässt auch nicht darauf schließen, dass dieser Missstand in absehbarer Zeit behoben werden könnte. Jedes Jahr muss fstgestellt werden, dass die Zahl der ausgeschriebene freien Posten, die Zahl der ausgebildeten Lehrern bei weitem überschreitet.

Die Zahl der „Spezialisten“, die in den lokalen Grundschulen arbeiten, nimmt ständig zu. Leider kann man hier nicht von einer Zusammenarbeit sprechen. Viele sind in verschiedenen Schulen tätig und unterstehen überregionalen Institutionen und Strukturen. Der Einsatz in den lokalen Grundschulen ist also stark abhängig vom Stundenplan der einzelnen Spezialisten, wie auch von den begrenzten zeitlichen Möglichkleiten. Es kannkaum zu einer organisierten Zusammenarbeit mit den Lehrern kommen. Um diese Zusammenarbeit zu gewährleisten, müssen auf lokalem Plan zuerst alle Akteure der Schule auf einer nicht hierarchischen Ebene zusammenarbeiten (können) und die „Spezialisten“ in dieses Team eingefügt werden. Hier muss die Verantwortung auf den Schultern der Lehrer der verschiedenen Schulen lasten, die je nach den Bedürfnissen der ihnen anvertrauten Schüler das Team der Schule zusammensetzen lassen. Die freie Wahl der pädagogischen Methoden und Hilfsmittel ist in diesem Fall eine unbedingte Voraussetzung. Erinnern wir daran, dass zum jetzigen Zeitpunkt, sowohl die pädagogischen Hilfsmittel, sprich Bücher, wie auch die Methodik vorgeschrieben sind, was einen differenzierten, den Ansprüchen der Schüler entsprechenden Unterricht sehr schnell an die Grenzen der Legalität des engen Rahmens des Gesetzes bringen kann.

ap