Bildungspolitik in Europa: Individualisierung des Unterrichts als Schlüssel zum Erfolg (Luxemburger Wort)

02. Mars 2005

Pisa-Koordinator Andreas Schleicher zu Gast in Luxemburg

MaG

(MaG) - Welche Lehren können aus I der zweiten Auflage des Pisa-Tests

I gezogen werden? Wo besteht Reformbedarf? Was zeichnet ein gutes Schulsystem aus? Was machen die Skandinavier schulpolitisch besser als andere Europäer? Das waren nur einige der Fragen, zu denen PISA-Koordinator Andreas Schleicher gestern Nachmittag im Rahmen eines Pressegesprächs Stellung bezog. Schleicher (Jahrgang 1964) ist bei der OECD für Bildungsfragen zuständig und spielte bei Pisa 2 eine Schlüsselrolle. Bei dieser in 41 Ländern durchgeführten Studie wurden im Jahr 2003 mehr als 25Q 000 Jugendliche im Alter von 15 Jahren getestet. Luxemburg, das drei Jahre zuvor im ersten Pisa-Test kläglich versagt hatte, konnte sich dabei (vor allem im Länderranking) deutlich verbessern.

Dennoch liegt das Großherzogtum in allen drei Testbereichen "mathematische Grundbildung", "Lesekompetenz" und "naturwissenschaftliche Grundbildung" (wenn auch nur leicht) unterhalb des OECD-Durchschnitts. Auffallend sind vor allem aber die erheblichen Leistungsunterschiede je nach Schultyp. Die Schüler des "secondaire" haben in allen Testbereichen deutlich besser abgeschnitten als die Schüler des "secondaire technique".

Zu viele strukturelle Barrieren machen wenig Sinn



Für OECD-Mann Schleicher ist das Beweis dafür, dass strukturelle Barrieren im Schulsystem eher leistungshemmend wirken. Im Klartext: Ein System, das bestraft und dadurch vornehmlich nach unten orientiert, mindert die Chancen vieler Jugendlicher auf schulischen Erfolg. Ob er aufgrund dieser Feststellung für ein Gesamtschulmodell plädiere, verneinte der Pisa~Koordinator. "Gesamtschule ist ein Begriff, der mir nicht gefällt. Für alle das gleiche zu verlangen, das kann nicht der Ansatz für Reformen sein", argumentierte Schleicher, der für eine weit reichende Individualisierung des Unterrichts eintritt. "Länder wie Finnland haben aber Bildungssysteme, in: denen wesentlich stärker individualisiert wird. Dort wird der Schüler im Grunde nicht nach bestimmten Schulstrukturen und -formen eingeteilt, sondern dort stehen Lehrer und I Schulen in der Verantwortung, konstruktiv mit der Verschiedenheit der Schüler umzugehen, sie müssen lernen, zu individualisieren", so der Bildungsexperte. Für ihn ist es falsch, der. Verschiedenheit junger Menschen mit starren Selektionsmechanismen zu begegnen. Schleicher tritt für ein offenes und integratives Lernangebot an, mit dem man unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen auch wirklich gerecht: werden könne.

Dass individuelle Betreuung zu besseren Leistungen führt, haben Pisa 1, und 2 belegt. Schüler, die Unterstützung durch ihren Lehrer erhalten, erzielten eine signifikant bessere Leistung als Schüler, die angaben, dass sie kaum Unterstützung erhalten. Was die Sachlage in Luxemburg angeht, so sagten (bei Pisa 2) 53 Prozent der Getesteten, ihre Lehrer interessierten sich für den Lernfortschritt jedes einzelnen Schülers. 61 Prozent sagten, die Lehrer unterstützten sie zusätzlich, wenn Hilfe gebraucht werde. Allerdings bejahten nur 49 Prozent die Aussage "der Lehrer hilft uns beim Lernen". Eine positive Antwort gaben dagegen im OECD-Durchschnitt 73 Prozent der Testteilnehmer.

Bei seinen Ausführungen vor der Luxemburger Presse brach Pisa-Koordinator Schleicher gestern auch eine Lanze für die Festlegung klarer Bildungsziele. Ausschlaggebend sollte die Frage sein, "was Schüler können sollen", Doch genau das sei in vielen' Ländern Europas nicht der Fall. Hier werde sich vor allem darauf konzentriert, "was Schüler lernen sollen". Ausnahme Skandinavien, wo, so Schleicher, "klare Bildungsziele gelten, die sich am Schüler orientieren". Bei der praktischen Umsetzung von Bildungszielen müssten, so Schleicher weiter, die einzelnen Schulakteure stärker in die Verantwortung eingebunden werden. Das setze wiederum ein möglichst ho­hes Maß an Autonomie voraus, das den Schulen zuerkannt werden müsse.

Auf die Rolle der Lehrer angesprochen meinte der Pisa-Koordinator, diese dürften keinesfalls als Einzelkämpfer agieren. 'Schleicher wies in diesem Kontext auf nachahmenswerte Teamteaching-Modelle aus Skandinavien hin. Dort werde in den Schulen vor allem auch auf die Einbeziehung von Psychologen und Sozialarbeitern gesetzt. Was die Lehrer angeht, so müsste, wie der Pisa-Koordinator sagte, die Weiterbildung zum festen Bestandteil deren Laufbahn werden. "Die Grundausbildung allein reicht längst nicht mehr aus, um die sozialen Herausforderungen von heute in der Schule zu meistern", erklärte Schleicher.

Mehrsprachigkeit als Herausforderung



Zum Thema Mehrsprachigkeit im Luxemburger Schulsystem meinte der Bildungsfachmann, es handele sich hier um eine große Herausforderung. Inwiefern die gesonderte Sprachsituation allerdings etwas mit dem relativ schlechten Abschneiden Luxemburgs beim Pisa-Test zu tun habe, sei schwer zu sagen. Das zu ergründen, sei schließlich auch nicht Sinn des Tests gewesen, so Schleicher, der vor dem Hintergrund der Sprachsituation an die durchaus positiven Resultate Luxemburgs in Sachen Integration erinnerte.

Im Pisa-Mathetest (dessen Resultate eingehender von der OECD untersucht worden sind) liegt der Rückstand ausländischer Schüler gegenüber ihren luxemburgischen Alterskollegen bei 65 Punkten. Vergleicht man diesen Durchschnittswert mit dem Ergebnis anderer Staaten stellt man fest, dass Ausländer zum Beispiel in Belgien oder den Niederlanden größere Probleme haben als das in Luxemburg der Fall ist. Bei unseren belgischen Nachbarn etwa gibt es zwischen einheimischen und ausländischen Schülern eine durchschnittliche Differenz von 109 Punkten.